Nachbarschafts-Streit am Gartenzaun

Recht zum Abschneiden überhängender Äste eines Baumes des Nachbarn auch wenn dadurch die Gefahr besteht, dass der Baum seine Standfestigkeit verliert.

Sachverhalt:

Viele kennen es aus eigener Erfahrung, oder haben zumindest schon mal davon gehört. Streit mit dem lieben Nachbarn kann zu vielerlei Anlässen entfacht werden. Ob Ruhestörung, Geruchsbelästigung oder sonstige Beeinträchtigungen des eigenen Wohnbereichs. Oft entfacht sich der Streit auch entlang des Gartenzauns. Vielleicht errichtet der eine ein Bauwerk, das dem Nachbarn nicht „passt“, oder der Nachbar lässt es zu, dass seine auf dem eigenen Grundstück stehenden Pflanzen ihre Zweige oder Wurzeln über den Gartenzaun reichen lassen.

Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) kennt verschiedene Vorschriften, die den Eigentümer einer Sache vor Beeinträchtigungen durch Dritte schützen. Wird das Eigentum dem Rechteinhaber entzogen, bietet § 985 BGB ein Herausgaberecht des Eigentümers, solange der aktuelle Besitzer kein Recht zum Besitz hat (der „Besitzer“ wird nur umgangssprachlich oft mit dem „Eigentümer“ gleichgesetzt. In der Rechtssprache bezeichnet man den, dem die Sache gehört als „Eigentümer“; denjenigen, der im Moment die tatsächliche Verfügungsgewalt inne hat, hingegen als (bloßen) „Besitzer“ – oft fallen die Eigenschaften Eigentum und Besitz jedoch auch in einer Person zusammen).

Geht es nicht um die Beeinträchtigung des Eigentums durch vollständige Entziehung, hält das Gesetz noch weiter Ansprüche (insb. Unterlassungsansprüche) zu Gunsten des Eigentümers bereit. In manchen Fällen kennt das Gesetz sogar sehr spezifische Ansprüche. In unserem heutigen Fall den § 910 BGB. Diese Art Recht wird als sog. „Selbsthilferecht“ bezeichnet.

§ 910 BGB regelt, dass der Eigentümer eines Grundstücks Wurzeln eines Baumes oder eines Strauches sowie herüberragende Zweige, die von einem Nachbargrundstück eingedrungen sind, abschneiden und behalten darf. Bei herüberragenden Zweigen muss der Eigentümer dem Besitzer des Nachbargrundstücks jedoch vorher eine angemessene Frist zur Beseitigung bestimmt haben. Abschneiden ist nur erlaubt, wenn die Frist abgelaufen ist. Im Übrigen ist das Abschneiden von Wurzeln und Zweigen dem Eigentümer nur dann erlaubt, wenn die Wurzeln oder die Zweige die Benutzung des Grundstücks tatsächlich beeinträchtigen. Nicht störende Gewächse dürfen also auch nicht angerührt werden.

Urteil des Bundesgerichtshofes:

Zuletzt hatte der BGH (Urteil vom 11. Juni 2021 – V ZR 234/19) erneut über einen Selbsthilfefall nach § 910 BGB zu entscheiden und stellte zwei Aspekte des § 910 BGB ausdrücklich fest. Nämlich (1), dass die Beeinträchtigung des Überwuchses nicht nur durch die Äste oder Wurzeln selbst, sondern auch durch mittelbare Folgen gegeben sein kann und (2), dass  der Überwuchs (sollte eine Beeinträchtigung vorliegen) auch dann vom Nachbar entfernt werden darf, wenn der Baum dadurch seine Standfestigkeit verliert.

Was war passiert:

Die Parteien sind Nachbarn. Auf dem Grundstück des Einen steht unmittelbar an der gemeinsamen Grenze seit rund 40 Jahren eine inzwischen etwa 15 Meter hohe Schwarzkiefer. Ihre Äste, von denen Nadeln und Zapfen herabfallen, ragen seit mindestens 20 Jahren auf das Grundstück des Nachbarn hinüber. Nachdem der eine dem anderen Nachbarn erfolglos aufgefordert hatte, die Äste der Kiefer zurückzuschneiden, schnitt er überhängende Zweige selbst ab.

Der BGH betonte in seiner Entscheidung zunächst, dass auch mittelbare Folgen, wie der Abfall von Nadeln und Zapfen eine tatbestandsmäßige Beeinträchtigungen im Sinne des § 910 BGB darstellen können (dies hatte der BGH bereits in seiner früheren Entscheidung vom 14. Juni 2019 (V ZR 102/18) festgehalten).

Wenn die Beeinträchtigung bestehe, so urteilte der BGH weiter, sei es nicht von Belang, ob der Baum durch die Ausübung des Rechtes seine Standfestigkeit verliere. Denn die Entfernung des Überhangs durch den Nachbarn ist für den Eigentümer des Baumes auch dann zumutbar, wenn dadurch das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht.

Das Selbsthilferecht aus § 910 Abs. 1 BGB sollte nach der Vorstellung des Gesetzgebers einfach und allgemein verständlich ausgestaltet sein, es unterliegt daher insbesondere keiner Verhältnismäßigkeits- oder Zumutbarkeitsprüfung. Zudem liegt die Verantwortung dafür, dass Äste und Zweige nicht über die Grenzen des Grundstücks hinauswachsen, bei dem Eigentümer des Grundstücks, auf dem der Baum steht; er ist hierzu im Rahmen der ordnungsgemäßen Bewirtschaftung seines Grundstücks gehalten. Kommt er dieser Verpflichtung – wie hier – nicht nach und lässt er die Zweige des Baumes über die Grundstücksgrenze wachsen, dann kann er nicht unter Verweis darauf, dass der Baum (nunmehr) droht, durch das Abschneiden der Zweige an der Grundstücksgrenze seine Standfestigkeit zu verlieren oder abzusterben, von seinem Nachbarn verlangen, das Abschneiden zu unterlassen und die Beeinträchtigung seines Grundstücks hinzunehmen.

Das Selbsthilferecht kann aber durch naturschutzrechtliche Regelungen, etwa durch Baumschutzsatzungen oder -verordnungen, eingeschränkt sein.

Fazit:

Beeinträchtigungen durch überhängende Zweige können auch mittelbar (zB durch herabfallende Pflanzenteile) gegeben sein und dadurch ein Selbsthilferecht des Nachbarn auslösen. Vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Beschränkungen kann der Nachbar von seinem Selbsthilferecht aus § 910 BGB in diesem Fall auch dann Gebrauch machen, wenn durch das Abschneiden überhängender Äste das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht

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